Luise und der Impftermin

 

Luise und der  Impftermin.

 

Anfang Januar ist Luise 80 geworden. Die geplante Feier zum runden Geburtstag wurde Corona bedingt ins Internet verlegt. 

"Wenigstens gehörst du nun zur priorisierten Impfgruppe" sagt Luises Sohn Richard und prostet ihr über Zoom zu. 

"Das ist auch so ein Unsinn!" poltert Luise. Sie findet, dass zuerst die geimpft werden sollten, die den Laden am Laufen halten, Pflegepersonal zum Beispiel, Polizei, Feuerwehr, Busfahrer, Lehrer... 

 

Dann aber bekam sie eine offizielle briefliche Aufforderung, sich telefonisch zum Impfen anzumelden. Also wählt Luise die angegebene Nummer. Nach längerem Warten bekommt sie die Antwort, dass es keine Impftermine gebe. Auch ihrer Bitte, vorgemerkt zu werden, kann leider nicht entsprochen werden. Sie müsse wieder anrufen, oder sich online registrieren. 

Also geht Luise ins Internet, findet dort aber nur weit entfernt gelegene Impfzentren. Luise wundert sich. Sie hat Friedrichshafen eingegeben und weiß, dass es dort ein Impfzentrum gibt. Aber vielleicht hat sie etwas falsch gemacht. Bei Gelegenheit wird sie Richard fragen. Luise schaltet ihren Computer in den Ruhezustand und wässert die Sprossen, mit denen sie ihr Immunsystem stärken will. Besser gar nicht erst krank werden, ist ihre Devise.

Als Tage später in der Zeitung steht, dass es nunmehr Wartelisten gebe, ruft Luise noch einmal an. 

"Ja", sagt die Dame am anderen Ende, sie hätte auch gehört, dass es demnächst Wartelisten geben solle. Nur, momentan gebe es leider noch keine. Sie möge doch bitte wieder anrufen.

Die Frau im Callcenter kann nichts dafür, sagt sich Luise, verkneift sich, die Überbringerin der Botschaft anzublaffen und geht in den Garten. Sie bearbeitet ihren Frust, indem sie verdorrte Strünke aus der Erde rupft.

 

Wochen später bekommt sie zum zweiten Mal eine offizielle, frankierte Post, diesmal von der Landesregierung. Erneut wird sie aufgefordert, sich zum Impfen anzumelden. Also greift Luise wieder zum Telefonhörer, stellt das Gedudel auf laut und wischt Staub, während sie wartet. Endlich, ein Mensch.

"Nein, Termine können momentan leider nicht vergeben werden."

"Gibt es denn inzwischen eine Warteliste?"

"Ja, die gibt es. Möchten Sie auf die Warteliste gesetzt werden?"

Luise gibt ihre Daten durch, ist einverstanden, sich auch am Wochenende impfen zu lassen und fragt, in welchem Zeitraum sie mit einem Rückruf rechnen könne. 

Dazu kann die Dame leider gar nichts sagen. 

 

Es wird März. Schneeglöckchen und Winterlinge sprießen aus dem Boden. Luise fragt sich, ob sie trotz Wartelistenplatz noch einmal anrufen soll. Vielleicht ist ihr Name im allgemeinen Impfchaos ja übersehen worden. Doch dann liest sie in der Zeitung, dass Mitarbeiter der Klinik am Bodensee zum Impfen per Bus nach Tübingen gekarrt wurden. 

Das findet Luise sonderbar. Wieso werden statt der Impfdosen Menschen durch die Gegend geschickt? Menschen, die doch eigentlich an ihrem Arbeitsplatz benötigt werden. 

Die Erklärung steht in einem gesonderten Kasten: Das liegt an der freien Wahl des Impfortes.

Aha, denkt Luise und wundert sich. Grundsätzlich ist sie durchaus freiheitsliebend. Dass sie frei entscheiden kann, ob sie sich überhaupt impfen lassen will, das begrüßt sie, aber die freie Ortswahl? Wozu soll die denn gut sein?

Luise liest weiter und begreift, dass sie, wenn es vor Ort keine Impftermine gibt, sie sich übers Internet für Tübingen oder Ulm anmelden kann.

Fragt sich nur, wie soll sie dahin kommen? Und noch am selben Tag wieder zurück? Übernachten geht auch nicht. Die Hotels haben ja zu. 

Selber mit dem Auto zu fahren scheint Luise riskant. Schon ohne Impfung wären ihr fünf Stunden am Steuer zu viel. Also müsste sie sich fahren lassen. Aber von wem? Ihren Sohn will sie nicht belästigen. Der ist sowieso überlastet mit Homeoffice und Homeschooling. Bleiben die öffentlichen Verkehrsmittel. Aber die meidet sie seit Corona, wegen der Ansteckungsgefahr. 

Luise atmet tief durch und mixt sich einen Kräutercocktail aus Gänseblümchen, Sauerampfer- und Löwenzahnblättern. 

Sie wird einfach weiter auf die Warteliste hoffen. 

Diese Hoffnung wird dünn, als sie am nächsten Tag die Zeitung aufschlägt. Dort wird das Stuttgarter Ministerium zitiert: 

"Niemand wird benachteiligt, weil er sich auf die Liste hat setzen lassen. Niemand muss befürchten, dass alle Termine über Internet und Hotline bereits weggeschnappt werden und am Ende keiner mehr über die Liste zum Zug kommt."

Wenn vom Frieden die Rede ist, dann droht Krieg, schießt es Luise durch den Kopf. Und wenn das Dementi vor der Aussage in der Zeitung steht, dann scheint irgendjemand ein extrem schlechtes Gewissen zu haben. 

Luise liest weiter: Der für das örtliche Impfzentrum zuständige Landrat wäscht seine Hände in Unschuld und behauptet, er habe leider keinen Zugriff auf das System. Er wisse nicht, wie die Impflisten abgearbeitet werden. Er beklagt sogar, dass im Bodenseekreis doppelt so viele Menschen pro Woche geimpft werden könnten... 

Luise lässt die Zeitung erschöpft fallen. Wenn sich schon die Verantwortlichen zum Opfer erklären, dann sieht es übel aus. 

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